Ein Wikipedian in Residence arbeitet nicht zwangsläufig nur in Museen. Auch in Archiven tragen Ehrenamtliche aus der Wiki-Community dazu bei, Inhalte auf Wiki-Plattformen der Welt zur Verfügung zu stellen. Ursina Gabriela Rösch ist eine von ihnen. Im Montreux Jazz Archive an der EPFL, Lausanne, hat sie einen Monat lang zur Aktualisierung von Wikidata beigetragen – eine Zusammenarbeit, die sich im Nachgang zur GLAM-on-Tour in Montreux im November 2022 ergeben hatte.

 

Hallo Ursina, schön, dass du uns hier Einblick gewährst. Was hat dich dazu motiviert, deine Freizeit für ein solches Projekt zu opfern?

Ursina: Jedes Ereignis hat ein paar Ereignisse zuvor, die dahin wirken. Ich habe die Leiterin des GLAM-Programms von Wikimedia CH, Sandra Becker, kennengelernt, als sie als Künstlerin in „meinem Projekt“ der FATart Art Fair in Schaffhausen teilgenommen hat.
Im Herbst 2022 kam bei mir der Wunsch auf, mich wieder viel mehr mit Musik zu beschäftigen, und ebenso, dass die französische Sprache in meinem Leben wieder eine wichtigere Rolle spielen sollte. Kurz darauf habe ich Sandra Becker wieder getroffen und es folgte eine Einladung zur GLAM-on-Tour in Montreux.
Logisch, dass ich sofort zusagte, und so in die Wikiwelt und in die Welt des Montreux Jazzfestival „gestolpert“ bin. Der Kooperationspartner bei dieser GLAM-on-Tour, Alain Dufaux, Operations & Development Director EPFL – Cultural Heritage & Innovation Center, hat mich dann zum 56. Festival als Mediatrice eingeladen. Weil diese Gelegenheit zu verlockend war, rückte die Frage einer Bezahlung in den Hintergrund, wichtiger sind mir die Ereignisse. Es war wie im Jazz: Improvisation, der Groove – es gibt auch Rhythmen und Sound im Alltag, und diese Einladung klang richtig gut.
Naja, wie immer die Frauen*. Musikerinnen sind zu wenig präsent, werden viel weniger besprochen und bekommen weniger Denkmäler. Es ist in allen Bereichen der Kunst immer noch eine grosse Schräglage da. Die Frage, wer sind die Musikerinnen, die im Montreux Jazzfestival bisher aufgetreten sind, hat mich beschäftigt.
Ich habe es mir zum „Sport“ gemacht, egal wo ich bin und was ich tue, nach den Frauen zu fragen, die sich beteiligten oder aktiv waren. Auch auf Wikipedia muss, noch sehr daran gearbeitet werden, eine Inklusive Weltanschauung zu leben. Bei Wikipedia hat mich erschreckt, wie rückständig der Kanon ist und wirkt. Andererseits habe ich auch sehr tolle, innovative und kooperative Menschen hier kennengelernt und ja, es geht immer auch darum, in eine Welt einzutauchen und dort Veränderungen zu bewirken.
Kurz:  Ich wollte Montreux Jazz Festival Organisation, die Musik und die Musikerinnen, die hier verbunden sind und waren, besser kennenlernen. Das Montreux Jazzfestival ist schon seit Kindheit in meinen Ohren, dieses Projekt war eine tolle Gelegenheit dazu.

 

Hast du das alles komplett gratis gemacht? 

Ursina: Weitgehend. Am Anfang bekam ich eine kleine Aufwandsentschädigung für meine Rolle als Mediatrice des Festivals. Die Unterkunfts- und Reisespesen hat die EPFL übernommen.

 

Und wie ging es dann weiter?

Ursina: Zunächst haben wir uns darauf verständigt, was wichtig und interessant zu tun wäre und was wir für mehr Sichtbarkeit von Musikerinnen beitragen können? Ein Thema, für das ich mich in meiner Rolle als Vertreterin der Frauen & FLINTAs besonders einsetze.
Zu Beginn wurden Kategorien erstellt, Femme, Homme und Diverse. Danach haben wir die Liste der Musikerinnen mit der Wikidataliste der Frauen auf Wikipedia abgeglichen. Welcher Eintrag fehlt noch, war die wichtigste Frage. Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz haben wir aus den bestehenden Wikipedia-Artikeln Kurzfassungen fürs Archiv der EPFL erstellt. Am Ende kamen Einträge für mehr als 1000 Musikerinnen zusammen.

 

Ist damit die Arbeit angeschlossen?

Ursina: Keinesfalls! Es müsste auch noch eine Liste von Musikerinnen erstellt werden, von denen es noch keinen Wikipedia Artikel gibt. Und was cool wäre: eine Unterseite über Frauen beim Montreux Jazzfestival.

 

Was sind nun die nächsten Schritte?

Ursina: Es ist angedacht, dass wir Schreibgruppen organisieren, die die offenen Vorhaben gewährleisten können. Hier bin ich bis jetzt noch nicht weitergekommen, da es um ehrenamtliche Arbeit geht. Zudem kann ich selber im Moment keine zusätzliche unbezahlte Arbeit leisten.

 

Was war dein persönliches Highlight in diesem Projekt?

Ursina: Das ist die Musik! Während meiner Fleissarbeit beim Prüfen von Listen und Einträgen konnte ich wunderbare Konzerte nacherleben.  Ich habe bei diesem musikalischen Ausflug auch neue Musikerinnen kennengelernt. Es ist mir wieder bewusst geworden, wie wichtig Musik für uns Menschen ist. Zu den Highlights zählen das Erlebnis der Tonqualität der Konzertaufzeichnungen, das hautnahe Spüren der Geschichte des Jazzfestivals und der Menschen, die sich dafür engagieren, sowie die Begegnungen mit musikpassionierten Menschen.

 

Was würdest du anderen Freiwilligen empfehlen?

Ursina: Engagiere dich, wo immer du kannst, da wo dein Herz schlägt, Musik, Kunst, Kultur, Politik, hier kannst du auch nichtwissend sein und lernen. Bei der Freiwilligenarbeit steht nach meinem Verständnis die Lernerfahrung und die Horizonterweiterung im Fokus. Bei der ehrenamtlichen Arbeit kannst du Neues entdecken!

 

Gibt es für andere Freiwillige im Montreux Jazz Archiv noch Einsatzmöglichkeiten?

Ursina: Ja sicher!  Der Grundstein ist gelegt, jetzt müssten nur noch die Prozesse weitergeführt werden. Das wäre ein Gewinn fürs Archiv und für die Wiki-Plattformen.

 

Mehr dazu